Gespannhistorie

Der offizielle Geburtstag des Seitenwagens war im April 1903. Die Brüder William John und Sydney Charles Graham aus England ließen sich als erste dieses Konzept patentieren, einen zusätzlichen Passagier mit dem Motorrad zu befördern. Die Erfindung des Seitenwagens hatte allerdings schon einige Jahre früher stattgefunden, zu einem Zeitpunkt, als motorisierte Zweiräder noch nicht zum Straßenbild gehörten, als die Motorenbauer noch von der unbeschwerlichen Bewegung für alle träumten.

1893 hatte eine französische Zeitung einen Wettbewerb ausgeschrieben, in dem die beste Lösung für die Mitnahme eines Passagiers auf einem Fahrrad gesucht wurde. Als Gewinner krönte man einen Monsieur Bertoux, Offizier der französischen Armee. Sein Vorschlag war eine einfache Rohrkonstruktion mit einem Rad, die an der Seite des Fahrrades montiert wurde. Bertoux hatte damit den ersten Seitenwagen, zumindest das Prinzip des Seitenwagens, entworfen. Die einschlägige Fahrradindustrie zeigte jedoch wenig Interesse an dem Konzept, nicht zuletzt deswegen, weil sich der Fahrer mit dem zusätzlichen Gewicht an der Seite zu sehr abstrampeln musste.

Eine ähnliche Erfindung von O.H. Bartlett in den Vereinigten Staaten im Jahre 1889 basierte auf dem gleichen Prinzip, konnte sich aber ebenso wenig durchsetzen. Und auch der Amerikaner H.L. Haff, der ein Fahrradgespann für den Lastentransport einsetzen wollte, gab seine Bemühungen bald wieder auf. Er war auf Dauer der körperlichen Belastung, man bedenke die Straßenverhältnisse, nicht gewachsen. Hätte es damals schon eine Gangschaltung gegeben, wäre sicher alles anders gelaufen.

Was die bis 1900 in Erscheinung getretenen Zwei- und Dreiräder betrifft, so realisierten die Hersteller vorerst zwei andere Lösungen. 1895 präsentierte Didler den Anhängerwagen, und kurze Zeit später kam der Vorsteckwagen von Chenard. Der Anhängerwagen war allerdings die denkbar schlechteste Lösung. Der Passagier konnte nicht nach vorn schauen. Wahrscheinlich hatte er sowieso bald das Interesse an der Umgebung verloren, denn der vom Hinterrad des Motorrades aufgewirbelte Staub und Dreck raubte ihm die Sicht, und die öligen Abgase des Motors gaben ihm bestimmt bald den Rest. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Anhänger schnell wieder von der Bildfläche verschwand.
Nicht viel anders erging es dem Vorsteckwagen. Obwohl hier der Beifahrer freie Sicht hatte, saß er oder sie doch sehr ungeschützt zwischen den beiden Vorderrädern und war allen Unwillen der Natur ausgesetzt. Für den Fahrer stellten sich andere Probleme. Ihm wurde durch den Passagier die Sicht nach vorn versperrt, und er musste das zusätzliche Gewicht durch erhöhten Kraftaufwand für die Lenkung kompensieren. Zudem galten die Vorsteckwagen-Gespanne als ”Nagelaufleser”. Das Hinterrad lief nämlich genau in der Spur, in der bei Fuhrwerken die Pferde zu gehen pflegten und oft ihre Hufnägel verloren. Der Vorsteckwagenfahrer musste also vermehrt Reifenpannen in Kauf nehmen. Man suchte nach besseren Lösungen.
Die englische Firma Mills & Fulford in Coventry, die sich seit 1898 intensiv mit dem Anhängerbau beschäftigt hatte, stellte sich dieser Aufgabe. Der erste Versuch war nichts weiter als ein an der Seite des Motorrades montierter Anhänger mit einem fehlenden Rad. Durch die labile Aufhängung fielen die Fahrversuche wenig zufrieden stellend aus. 1902 stellte man einen Prototypen der Öffentlichkeit vor. Obwohl man damit großes Aufsehen erregte, blieb der erhoffte Erfolg aus.

Die Beifahrer in den Anhängewagen und Vorsteckwagen waren weiterhin unzufrieden. Meistens waren es die Ehefrauen, Geliebten oder Freundinnen, mit denen die Fahrer eine Spritztour ins Grüne machten oder einfach die unbeschwerte Art der Fortbewegung genießen wollten. Dass die Damen auf Dauer die beschriebenen Nachteile nicht in Kauf nehmen wollten, ist mehr als verständlich.

Der Trend zielte eindeutig in Richtung Seitenwagen. Dies zeigte dann auch der Cartoonist G. Moore in der Zeitschrift ”Motor Cycling” in der Ausgabe von 7. Januar 1903. Für ihn war die einzig wahre Lösung des Problems der Seiten wagen. Ob die Brüder Graham von dem Cartoon inspiriert wurden oder ob sie bereits am Seitenwagen arbeiteten und Moore davon wusste, bleibt offen. Auf alle Fälle erhielten sie im April 1903 das Patent auf ihren ”Neuen oder perfektionierten Anbau für Fahrräder oder Motorräder”. In der Patentschrift findet man immer wieder das Wort ”sociable”, das man mit geselliges Zusammensein oder auch Plaudersofa übersetzen kann. Die Sitzgelegenheit des Beifahrers neben dem Fahrer ließ nun die uneingeschränkte Konversation der beiden zu – so sah es zumindest auch G. Moore – und die Abfederung der meist kunstvoll geflochtenen Korb-aufbauten mit großzügig bemessenen 3/4-Elliptik-Blattfedern zeigen, dass der Begriff für die ersten Seitenwagen durchaus passend war.

Schon kurze Zeit später wurden den Brüdern Graham einige Herren der Firma Components Ltd. vorstellig, der Muttergesellschaft der englischen Motorradfabrik Ariel. Die Rechte an dem Patent wechselten den Besitzer, und schon im Juni 1903 findet man die ersten Anzeigen für das ”Liberty, sociable attachement”. Von nun an ging es bergauf. Alle Argumente sprachen für den Seitenwagen: einfache und kostengünstige Konstruktion, geringe Anschaffungskosten, keine zeitraubende Montage wie zum Beispiel beim Vorsteckwagen, geschützter Platz für den Beifahrer neben dem Fahrer. Die ersten Seitenwagen in Deutschland waren Kopien der englischen Vorbilder, also ein einfachstes Rohrfahrgestell mit einem Korbaufbau. Aber was hätte man schon verbessern sollen.

Die Brüder Beissebarth in München boten ihr 2 3/4 HP-Motorrad im Jahre 1904 mit Seitenwagen an. Auch NSU ließ nicht lange auf sich warten und hatte neben dem Vorsteckwagen auch bald den Seitenwagen im Programm. Bei Corona findet man das dritte Rad ein Jahr später. [Mar21] [Ree21]